oder Das Grundgesetz eine historische Begebenheit
Gastbeitrag von Werner Leuthner, Villingen
Rainer Schott wurde von zwei Polizeibeamten ins Revier geführt; gedrängt wäre wohl der passendere Ausdruck. Er leistete keinen Widerstand, obwohl er sich sicher war, nichts Unrechtes getan zu haben. Er vermutete, mit seiner Kritik an zwei junge, noch unerfahrene Polizisten geraten zu sein – und deshalb deren Überreaktion.
Hinter dem Tresen befanden sich sechs Polizeibeamte unterschiedlichen Alters und – den Abzeichen auf den Schulterklappen nach – in unterschiedlichem Dienstrang. Mit lautem Hallo wurden die eintreffenden Kollegen von den Anwesenden begrüßt. Ihn, Rainer Schott, schien niemand zu beachten
Nachdem sie sich über den Stand der Demonstration ausgetauscht hatten, wollte plötzlich einer der Beamten wissen, warum sie jemand mitgebracht hätten. Ob dieser ein besonders gewalttätiger Demo-Teilnehmer sei?
Nein, sagte der eine seiner „Begleiter“ und zog Schotts Ausweis aus der Tasche und las den Namen laut vor. Dieser Moral-Querulant hat uns bei unserer Arbeit behindert, wollte uns Vorschriften machen, was wir zu tun hätten und hat uns dauernd mit dem Begriff „Würde“ genervt, der als angeblich unveräußerliches Grundrecht in einem Gesetz stehe…
Ein älterer Beamter wies Schotts Begleiter an, ihren Bericht zu fertigen, lies sich dessen Ausweis aushändigen und winkte Rainer Schott zu sich heran. Sie gingen in ein Zimmer daneben, auf dessen offener Glastür „Vernehmung 3“ stand.
Sein Begleiter bedeutete Rainer Schott, auf einem Stuhl neben dem Schreibtisch Platz zu nehmen.
Auf dem Tisch ein Namensschild: „PHK Sigurd Brandes“. Dieser Brandes rollte seinen Bürostuhl heran, setzte sich und startete mit einem Seufzen seinen Bildschirm. Schotts Ausweis steckte er in ein Lesegeräte.
„Aha – da haben wir ihn ja schon – unseren Rainer Schott. Immerhin: Nicht vorbestraft!“
Er las leise alle persönlichen Daten vor und vergewisserte sich, an Schott gewandt, ob dessen Adresse noch stimme. Dann schüttelte er den Kopf: „Als Sie herein kamen – ich hätte schwören können, dass Sie Lehrer sind. Dabei sind Sie Vermessungsingenieur!“ Brandes klang enttäuscht.
Ein Hauch von einem Lächeln glitt über Schotts Lippen, als er sagte: “Ja, die braucht man immer noch – trotz Satelliten- und Drohneneinsatz!“
Dann begann Brandes zu diktieren: „Heute, am 3. April 2034, wurde Rainer Schott vorgeführt“.
Dann wandte er sich Schott zu: „Nun erzählen Sie mal Ihre Version der Vorkommnisse, die zu Ihrer Festnahme führten. Dies vergleiche ich dann mit dem Bericht der Kollegen, die Sie gebracht haben!“
Rainer Schott, der noch nie mit der Polizei zu tun hatte, atmete heftig.
Er nahm sich vor, so ruhig wie irgend möglich zu bleiben. So berichtete er, dass er nur zufällig in die Demo geraten war. Er sei aus einer Querstraße gekommen und habe die Jean-Jaurès-Straße überqueren wollen.
„Moment mal!“, Brandes unterbrach ihn: „Diese Straße heißt seit zwei Jahren wieder Hindenburgdamm – wie früher! Wir haben genügend eigene Vorbilder – wir brauchen keine Anleihen aus dem Ausland!“ Mit einer Kopfbewegung wies er Schott an, fortzufahren.
An eben dieser Straße hatten Polizeikräfte einen Block von Demonstranten eingekesselt und so sei sein Weg versperrt gewesen. Er habe Transparente gesehen, auf denen die Abschaffung der persönlichen „Reine-Luft-Abgabe“ gefordert wurde. Mit diesem Ziel könne er sich durchaus identifizieren. Verursacher, also die Fabriken oder Firmen, sollten belastet werden und nicht die Leidtragenden, die einzelnen Bürger!
Brandes grinste: „Man muss die Konzerne bei Laune halten. Da bleibt nur, die enormen Lasten auf vielen Schultern zu verteilen. Aber schweifen Sie nicht ab!“
Da betonte Schott nochmals, er sei nur zufällig an die Demo gekommen, denn er wollte zum Buch- und Zeitschriftenladen, jenseits der Hauptstraße, dem einzigen, den es hier in der Stadt noch gibt. Da er nicht weiter gekommen sei, sei er eben hinter dem Rücken der Polizisten stehen geblieben, die den Kordon bildeten.
Schott berichtete, wie er mitbekommen habe, dass eine junge Frau die Polizisten mehrfach bat, herausgelassen zu werden, da sie ganz dringend aufs Klo müsste. Dies sei abgelehnt worden, denn – so hieß es – zuerst müssten alle Demonstranten erkennungsdienstlich behandelt werden. Letztendlich hatte sich die Frau eingenässt – deutlich sichtbar an ihrer Hose.
Rainer Schott stockte; ihm kam seine Situation plötzlich so absurd vor. Er knetete seine Hände. Er, der sich für jemand anderen eingesetzt hatte, wurde nun als Beschuldigter vernommen. Er mutmaßte, dass man ihn hier „klein machen“ wollte und rätselte gleichzeitig, welche Auswirkungen seine Ausführungen haben könnten.
PHK Brandes forderte ihn mit einem lauten „Weiter“ auf, fortzufahren.
Schott schilderte weiter: Er habe daraufhin den Polizisten angesprochen, der unmittelbar vor ihm gestanden habe. Dieser habe ihn angefaucht, was er denn wolle. Er habe ihn aufgefordert abzuhauen oder ob er auch in den Kessel wolle? Doch er habe sich nicht einschüchtern lassen und vorgebracht, dass es doch unwürdig sei, diese Frau nicht auf das WC lassen. Er habe ihn gefragt, ob er das Grundgesetz kenne, jenen ersten Artikel, der die Würde eines jeden Menschen für unantastbar erkläre. Und dass es Aufgabe aller staatlichen Einrichtungen sei, diese zu achten.
Der Vernehmende schüttelte seinen Kopf und begann wieder zu grinsen – was Rainer Schott sehr irritierte. Nach einer Pause fuhr er fort. Der junge Beamte habe ihn verständnislos angesehen, von Landfriedensbruch, Aufruhr und Widerstand gegen die Staatsgewalt gesprochen, seinen Ausweis gefordert und ihn zusammen mit einem Kollegen dann hierher gebracht. Das sei sein Bericht.
Der Vernehmungsbeamte nickte und fragte: „Zeugen haben Sie keine?“ Und ohne eine Antwort abzuwarten, ergänzte er: „Und wenn Sie welche hätten, die Aussagen von zwei Polizeibeamten haben mehr Gewicht!“
„Doch nun zu Ihrem Grundgesetz“, fuhr PHK Brandes fort. „Sie scheinen mir ein ernsthafter Mensch zu sein, allerdings einer mit völlig antiquierten Ansichten. Darum nehme ich mir etwas Zeit, Ihnen das zu erklären“.
Brandes lehnte sich zurück.
„Dass Sie sich auf das Grundgesetz beziehen, finde ich kurios. Das hatte damals in der jungen Bundesrepublik seine Geltung. Doch von Beginn an setzte die Erosion ein, weil man – wie man mir berichtete – Artikel wie „Eigentum verpflichtet“ geflissentlich übersah. Aber jetzt in unserem direktiven Staatswesen ist es komplett obsolet geworden. Das Grundgesetz ist eine historische Begebenheit.
Kennen Sie Hammurabi?“ Schott nickte: „Er war einmal Herrscher über die Sumerer, knapp 2000 Jahre vor unserer Zeitrechnung!“
„Genau – jener Hammurabi hatte Gesetze erlassen und sie in Stein meißeln lassen. Diese Tafeln wurden gefunden, ausgegraben und stehen jetzt in einem Museum. Außer Archäologen interessiert sich niemand mehr dafür. So ist es auch mit dem Grundgesetz.
Schott widersprach heftig: „Der Hammurabi-Codex ist 4000 Jahre alt – das Grundgesetz jetzt erst 85 Jahre. Und es ist niemals abgeschafft worden! Niemals!“
PHK Brandes lächelte: „Unser Staat verlangt rasche Entscheidungen. Die kommen nicht durch lange Debatten zustande, sondern indem unser Präsident bestimmt. Einfache Leute sind es sowieso gewohnt, sich ein- und unterzuordnen. Nur einzelne Intellektuelle begehren dagegen auf. Es werden alte Vaterkonflikte sein, die bei denen im Untergrund schwelen. Sie können einfach nicht zugeben, dass sie sich auch eine starke, ordnende Hand wünschen!“ Brandes machte eine Pause. „Immerhin blieb ja die Möglichkeit zu demonstrieren.“
Schott schüttelte seinen Kopf und rutschte auf seinem Stuhl hin und her.
Brandes sah ihn belustigt an.
„Dass man dieses Grundgesetz, auf das Sie sich beziehen, weder neuen Bedürfnissen angepasst noch abgeschafft hat, unterstreicht dessen Bedeutungslosigkeit. Es ist einfach ein historisches Relikt – ohne Relevanz für unsere Zeit.
Schott wollte erwidern, doch PHK Brandes schnitt ihm das Wort ab und grinste..
„Für Sie habe ich soeben diesen Artikel Eins jenes Grundgesetzes aktualisiert. Ich habe ganz einfach das Wort „Würde“ durch „Bürde“ ersetzte. Der neue Wortlaut wäre demnach: ‚Die Bürde des Menschen ist unantastbar!’“
Sein Einfall amüsierte PHK Brandes und er begann zu lachen: „Die Bürde, ja – die Bürde ist unantastbar! Wie finden Sie das? Und es trifft die Situation! Auch Ihre!“ Schott erstarrte.
PHK Brandes reichte ihm seinen Ausweis zurück: „Durch Ihr Verhalten haben Sie zum Ausdruck gebracht, dass Sie die Rechtmäßigkeit polizeilichen Handelns in Zweifel ziehen. Das wird Folgen für Sie haben. Das Mindeste wird sein, dass man Sie zu einem Seminar einbestellt. Einem Seminar wie ‚Unseren Staat positiv erleben!‘ Polizeiliches Handeln ist Staatliches Handeln und damit per se positiv! Sie können jetzt gehen!“ Dann begann er wieder zu lachen: „Die Bürde, ja die Bürde“ und klopfte sich auf die Schenkel.
Rainer Schott drehte sich grußlos um und verließ den Vernehmungsraum.
Als er den Vorraum passierte, lachten die Versammelten. Sie mussten mitgehört haben, denn der Begriff „Bürde“ schien der Grund für diese Heiterkeit zu sein.
Ihm wurde nachgerufen: „Ihre Bürde ist unantastbar!“
.Schott murmelte „Nein, nein“ und taumelte auf die Straße. ©
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