Short-Story
von Werner Leuthner, Villingen
Als die zweite Corona-Welle endlich abgeklungen war, lag mein Land am Boden. Ein kollektives Trauma. Die Menschen wie benommen. Es war die schwerste Rezession seit dem Ende des 2. Zweiten Weltkriegs. Doch im Gegensatz zu damals – also vor circa 85 Jahren – war nichts durch Kriegseinwirkung zerstört. Trotzdem funktionierte im öffentlichen Leben nur noch wenig.
Ich, Damian Krukal, war Rentner schon vor Ausbruch der Pandemie. Ich dachte damals noch, dass ich diese Krise verhältnismäßig gut überstehen würde.
Nachdem der Konsum eingebrochen war, verloren sehr viele Beschäftigte ihren Job. Und unsere Wirtschaft hatte viel weniger exportiert, alle Unternehmer stellten Investitionen zurück. Die Arbeitslosenquote lag offiziell bei 25 Prozent. In Wirklichkeit musste sie deutlich höher gewesen sein.
Die Bundesregierung verwaltete den Mangel mit Notstandsgesetzen und Notverordnungen. Sie kürzte die Beamtengehälter, die Pensionen und die Renten um die Hälfte. Das traf mich hart.
Zwar stieg die Zahl der Diebstähle deutlich an, aber Plünderungen im großen Stil blieben aus. Auch kein Aufruhr! Die Zahl der Gewaltdelikte wuchs nur unwesentlich. Der Chef-Psychologe aus dem Kanzleramt erklärte diese erstaunlichen Ruhe mit der allgemeinen Lethargie. Man konnte also keinesfalls von einem „Spannungsfall im Inneren“ sprechen. Warum also die Notstandsgesetze, empörte ich mich?
Irgendwann kam der Umschwung. Zwar sendete das Fernsehen laufend aufmunternde Spots, aber die nahm wohl kaum jemand bewusst wahr. Im Gegenteil, die Absicht der positiven Beeinflussung wurde erkannt und als lästig empfunden.
Aber was war es dann? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Ohne Aufrufe zu gemeinsamem Handeln fanden sich Bürger zusammen. Es gab viel zu tun. Zum Beispiel, die liegengebliebenen Berge von Müll abzutragen.
Es war, als hätte sich ein geheimes Aufbruch-Kommando herumgesprochen. Auch nach der Kapitulation, im Mai 1945 – so hatte ich es gelesen – haben die Leute ohne Befehl von oben angepackt und aufgeräumt.
Die politischen Strukturen erwachten zu neuem Leben und veränderten sich radikal. So setzte sich durch, dass in den Kommunalparlamenten die Hälfte der Sitze vorbehalten war für die neu entstandenen Vereinigungen der Gewerbesteuerzahler. Die Vertreter der politischen Parteien mussten sich mit der anderen Hälfte der Sitze begnügen.
Der Umbau der politischen Organe wurde mit den Erfordernissen einer raschen Aufbauarbeit erklärt. Er war durch die Notstandsgesetze legitimiert. Endlich sollten die Fachleute gebührend Gehör finden, hieß es. Die verhalten vorgebrachte Kritik an diesen Maßnahmen wurde zurückgewiesen mit dem Hinweis auf deren vorübergehenden Charakter. Diese Veränderungen zogen sich über alle politischen Ebenen hin; so wurde den Lobbyisten am Bundestag ein offizieller Beraterstatus zuerkannt, und sie erhielten nun auch Gehalt von der Bundesregierung..
Eine weitere Neuerung war, dass ab einem Stichtag das Bargeld abgeschafft wurde. Komplett – selbst für Kleinbeträge. So konnte man auch einen Schokoriegel im Wert von 50 Cent nur noch mit seiner Bank-Card oder dem Smartphone bezahlen. Und auch die Bank-Card sollte keinen Bestand haben. Restliche Bargeldbestände musste man bei den Filialen der Landeszentralbanken in ein Bankguthaben umtauschen.
Das war seit langem die erste Maßnahme, die in der Bevölkerung zaghafte Kritik hervorrief. Doch es blieb beim Murren. Ich demonstrierte damals auf dem Marktplatz mit einem umgehängten Pappschild. „Das ist Enteignung!“, hatte ich darauf geschrieben. Kaum jemand beachtete mich.
Ein Banker lachte mich aus. Ob ich denn nicht wüsste, dass dadurch die grassierende Schwarzarbeit unterbunden werde? Und dass der Staat so erkleckliche Mehreinnahmen erhielte. Und dass niemand mehr Omas Sparstrumpf klauen könne. Von Banküberfällen ganz zu schweigen!
„Okay, okay“, hatte ich ihm entgegnet, „Und was ist mit den Stromausfällen?“- „Die Notstrom-Aggregate springen sofort an!“
„Das glaube ich nicht – immer wieder gibt es Stromausfälle, und die legen Bahnstrecken und Wohnviertel, sogar Krankenhäuser lahm!“
„Sie würden wohl lieber in der Steinzeit leben?“, meinte er und wandte sich kopfschüttelnd ab. – „Und wenn das System gehackt wird?“, rief ich ihm nach.
Er zuckte mit seinen Schultern und setzte seinen Weg fort, ohne sich nochmals umzudrehen.
Zweimal in der Woche an den beiden Markttagen stand ich mit meinen gebastelten Schildern vor dem Rathaus. Jedes Mal mit einer anderen Botschaft.
„Weg mit den Notstandsgesetzen!“
„Wo bleibt die Privatsphäre?“
„Ich will nicht gläsern sein!“ und so weiter.
Niemand ging auf den Inhalt meiner Botschaften ein. Aber alle schienen Anstoß an meinem Protest zu nehmen.
„Man hätte sich schon längst an China ein Beispiel nehmen müssen!“
„Das Individuum ist viel zu lange überbewertet gewesen – wichtig ist das Volksganze!“
Warum ich nicht arbeiten ginge – jetzt in der Aufbruchsphase?
Wenigstens gemeinnützige Arbeit könne ich doch leisten!
Auch dass ich Rentner bin, wollten sie nicht gelten lassen. Ich wurde „Querulant“ gescholten.
Auch meine Bekannten gingen mir mit der Zeit aus dem Weg. Ich war zunehmend isoliert.
Dieses ängstliche „Ja-nicht-Auffallen“ schien nun die Grundhaltung zu sein. Waren denn alle Mitbürger einer Gehirnwäsche unterzogen worden? Wie kam es, dass ich davon nicht „infiziert“ war?
Meinen Anteil am Wiederaufbau leistete ich ja bereits durch den mir einbehaltenen Rentenanteil. Allerdings sah ich nicht ein, dass dieser Zwangsbeitrag bei Ruhestandsbezügen über 4.000 Euro mit 1.500,- gedeckelt waren auf . V Verfügte also jemand über höhere Bezüge als 4000, wurde er auch nur mit 1.500 belastet. Es war für mich unfassbar, dass das allgemein so hingenommen wurde. Meine Empörung teilte niemand.
Mein Smartphone nutzte ich so wenig wie möglich. Ich wollte verhindern, dass „sie“ Bewegungsdaten von mir erfassten und auch sonst ein „Profil“ von mir erstellten. Aber man wollte die Menschen zur umfassenden Anwendung von Smartphones zwingen, in dem man die Lesegeräte für Bank-Cards Schritt für Schritt verschwinden ließ. Zuerst aus dem Einzelhandel, dann auch bei Ämtern und Behörden.
Eines Tages wollte ich einer Umweltorganisation eine Spende zukommen lassen – da passierte das Ungeheuerliche. Das Terminal verweigerte die Annahme dieses Auftrags; mein Konto sei nicht gedeckt! Ich war ratlos. Das konnte nicht sein: Über 2.000 Euro mussten da noch darauf sein. So probierte ich es noch zweimal: jedes Mal mit dem gleichen Ergebnis. Beim vierten Versuch behielt das Terminal meine Karte ein. Auf dem Display stand: „Ihre Bank-Card wurde eingezogen. Bitte melden Sie sich bei der zuständigen Stelle!“
Zuerst war ich wie versteinert. Dann hämmerte ich mit den Fäusten auf dem Gerät herum, drückte wie wild alle Knöpfe, von „Korrektur“ bis zu „Bestätigung“. Ohne Erfolg!
Ich weiß nicht, wie lange ich in diesem Raum mit den Bankterminals herumstand. Völlig unschlüssig.
Was war in meinem Fall die „zuständige Stelle“? Das Bürgeramt im Rathaus? Die BfA beziehungsweise deren Zweigstelle hier? Die Bankzentrale?
Geknickt trat ich den Nachhauseweg an. Mein erster Blick galt meinem Kühlschrank: mit meinen Vorräten würde ich – bei sparsamer Nutzung – eine Woche überdauern können. Doch das konnte es ja nicht sein: ich musste so schnell wie möglich diesen unrechtmäßigen und unwürdigen Zustand beenden!
„Zuständige Stelle?“ Zuerst sprach ich beim Bürgeramt im Rathaus vor, ich wollte eine erste Orientierung. Die Angestellte am Schalter sah mich an: „Ah, sind Sie unser Weltverbesserer?“ Ich entgegnete nichts. Nach ihren Unterlagen war ich weiter unter meiner Anschrift gemeldet. Zur Kontensperrung konnte oder wollte sie mir nichts sagen. Warum ich nicht zuerst bei meiner Bank nachgefragt hätte?
Weil meine Bank nur aus wenigen Räumen mit Automaten bestehe – entgegnete ich.
Meine Protestaktionen setzte ich aus – meine neue, so desolate Lebenssituation lähmte mich. Aber mein Grimm war nicht verflogen, ich trug ihn nun still mit mir herum.
Zuhause setzte ich mich an meinen PC und wollte eine Anfrage per Mail an meine Bank schicken. Ich schilderte den Sachverhalt und bat um eine rasche Klärung und Herausgabe meiner Bank-Card. Doch die E-Mail ließ sich nicht versenden: „Derzeit kein Internetanschluss – Versuchen Sie es später nochmals!“ Ich zog alle Kabel am Router und steckte sie wieder ein – ohne Erfolg.
Nun wollte ich das Schreiben als „Einschreiben mit Rückschein“ versenden. Doch im Postgebäude angekommen wurde mir plötzlich bewusst, dass ich die anfallenden Gebühren nicht begleichen könnte – ohne Bank-Card und ohne Bezahl-App auf dem Smartphone. Bedrückt schlich ich nach Hause.
In einem Fach meines Schreibtisches fand ich tatsächlich noch ein paar alte Briefmarken, die zusammen das benötigte Porto für einen normalen Brief ergaben Ohne die Zusatzleistungen wie Einschreiben etc. Ich warf den Brief in den Kasten ein, ohne viel Hoffnung auf eine Resonanz. Ich hätte ihn genauso gut in einen Gully stecken können, es wäre wohl nicht weniger vergeblich gewesen.
Den Rückweg nahm ich über den Stadtpark. Schlimme Gedanken plagten mich. Wenn mein Konto als leer geführt wurde, konnte auch der Dauerauftrag für die Miete nicht mehr funktionieren. Dann würde in absehbarer Zeit die Zwangsräumung erfolgen und ich war obdachlos. Nicht sesshaft. Ich würde zum Penner. Aber im Gegensatz zu früher funktionierte selbst Betteln nicht mehr. Bargeldlos betteln – ich musste grinsen…. Bloß gut, dass Else all dies nicht mehr miterleben muss. Hätte meine Frau noch gelebt, hätte ich mich sicher nicht so weit aus dem Fenster gelehnt.
Auf der Nachbarbank aßen zwei Schulkinder zusammen eine Pizza. Ich beobachtete, dass sie den dicken Rand verschmähten und in der Pizzaschachtel liegen ließen. Kaum waren die Schüler aufgestanden, eilte ich hin, schaute um mich und ergriff die Schachtel, klappte sie zu und machte mich davon. Als ich mich unbeobachtet fühlte, verschlang ich die Reste. Ein Vorgeschmack auf meine künftige Situation!
Ich sprach bei der örtlichen Niederlassung der Rentenbehörde BfA vor. Ohne Terminabsprache musste ich über zwei Stunden warten, bis ein Sachbearbeiter für den Buchstaben „K“ frei war.
Endlich konnte ich mein Problem vortragen – wie ich denn ohne Kontozugang zu meiner kleinen, weil halbierten Rente käme? Der Angestellte schien mir gegenüber nicht voreingenommen, offensichtlich hatte er von meinen Protestaktionen nichts mitbekommen. Er klickte sich durch sein Auskunftssystem. Nachdem er sich mit seiner Antwort sehr viel Zeit ließ, war ich mir sicher, dass er mir Nachteiliges eröffnen würde. So kam es auch: Die Datensätze zu meiner Person enthielten den Hinweis, dass derzeit eine Prüfung meiner „Rentenwürdigkeit“ laufe.
„ ‚Rentenwürdigkeit‘ – was ist das denn?“, empörte ich mich. „Hat man sich nicht seinen Anspruch auf Rente durch seine Einzahlungen während der Berufslebens erworben – ohne Wenn und Aber?“ Der Angestellte zuckte mit den Schultern: Der Begriff sei ihm auch neu. Es müsse sich um einen Eingriff von ganz oben handeln. „Eingriff von ganz oben?“, wiederholte ich fassungslos. „Verfassungsschutz?“, rätselte mein Gegenüber.
Bei meinen Urlauben – vor vielen Jahren – hatte ich auf Campingplätzen Station gemacht. Von der damaligen Ausrüstung musste doch noch etwas da sein. Ich begab mich in den Keller, öffnete die Schränke und holte alles heraus, was mir für mein künftiges Leben nützlich sein könnte: Rucksack, Schlafsack, Isomatte. Als ich die Plastikhülle meines alten Schlafsacks öffnete, kam mir ein Geruch entgegen, der mir fast die Luft nahm. Was brauchte ich noch? Eine Plane, einen Becher, Wasserflasche, Campingbesteck. Auch ein großes Messer!
Ich packte alles in den großen Rucksack. Diesen stellte ich im Fahrradschuppen ab. Für den Fall, dass mir der Zugang zu meiner Wohnung plötzlich gesperrt würde.
Wenn ich bei Freunden anrief, ging niemand ans Telefon. Offensichtlich erkannten sie die Nummer und hoben nicht ab. Einmal aber habe ich Bernd doch am Telefon erwischt. Ihn kannte ich seit unserer Grundschulzeit. Er beschwor mich, mich nicht weiter quer zu stellen. Auf meinen Hinweis, dass ich schon geraume Zeit nicht mehr demonstrierte, ging er nicht ein. Meine Empörung darüber, dass mein Konto gesperrt sei, schien ihn nicht zu berühren. Er werde bei sich im Hauseingang eine Tüte mit haltbaren Lebensmitteln für mich deponieren. Die könne ich holen, ohne bei ihm klingeln zu müssen. Ich sollte mich nicht mehr bei ihm melden, denn die Telefonanschlüsse würden auch überwacht. Alles Gute, wünschte er noch. Mir zog es den Hals zu.
Meine Spaziergänge im Stadtpark weitete ich aus. Im abgelegenen Teil hielt ich Ausschau nach Stellen, die für ein Biwak in Frage kämen. Ich stellte mir vor, was für ein Leben mich da erwarten würde: kein warmes Essen mehr. Nur irgendwelche Brocken. Ohne die Möglichkeit, die Zähne zu putzen, sich zu waschen. Wie das wohl sein würde, wenn ich das letzte Blatt Toilettenpapier aufgebraucht hätte? Und wie es dann im Winter sein würde?
Gerne hätte ich einen Penner um Rat gefragt. Aber in unserer Stadt hatte ich schon lange keinen mehr gesehen… Wo hatte man die hingebracht?
Ich wunderte mich über mich selbst. Meine ehemals bürgerliche Existenz schien sich aufzulösen.
Da entdeckte ich an einer Litfasssäule einen Steckbrief: Gesucht wurde ein Damian Krupal. Zuerst erschrak ich, obwohl das Bild mir kaum ähnlich sah. Dann bemerkte ich die andere Schreibweise des Familiennamens. Krupal statt Krukal.
Ich war unschlüssig. Sollte ich mich der Polizei stellen? War ich wirklich der Gesuchte?
Was hatte ich getan, außer auf den schleichenden Abbau aller Persönlichkeitsrechte hinzuweisen? Reichte das in diesen Zeiten aus, gesucht und vermutlich weggesperrt zu werden?
Aber die Vorstellung, mich im Winter draußen aufhalten zu müssen, zu frieren, hungrig zu sein, nichts lesen und keine Musik hören zu können….
Auf der Polizeiwache nahm man mir alle persönlichen Gegenstände ab. Ich wurde erkennungsdienstlich behandelt und dann in eine Zelle eingeschlossen. Nach einigen Stunden öffnete ein Beamter, brachte mir meine Sachen in einer großen Plastiktüte und erklärte mir mürrisch, dass ich nicht der Gesuchte sei. Ich sei ja nur der Spinner mit den Pappplakaten. Das sei noch nicht strafbar. Ich solle mich verdrücken.
Ein Stein plumpste von meinem Herzen, doch ich ließ mir nichts anmerken. Keinen Zentimeter wich ich von der Stelle. „Und was ist mit meiner Bank-Card?“, fragte ich, „die ist eingezogen worden. Ohne die bin ich ein Nichts!“
Der Beamte grinste: „Ein wirkungsvolles Instrument!“ Er nickte: „Nicht wahr! Abgeschnitten vom Geldfluss tauchen alle über kurz oder lang auf!“ Und nach einer Pause: „Ihre Bank-Card? Die bleibt einbehalten. Aber in etwa einer Woche bekommen Sie den Freischaltcode für Ihre Bezahl-App zugeschickt. Und jetzt gehen Sie – aber dalli!“
Betont langsam erhob ich mich und ging grußlos an ihm vorbei. ©
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