Das literarische Erbe im öffentlichen Bewusstsein bewahren
von Rudolf Winker OStR a.D. – Villingen BaWü – Mai 2018
E i n A u f r u f
Sprache ist und war ein technisch-kommunikatives Mittel, um Erkenntnisse auch in ästhetischer Form zu vermitteln. Sprache ist – neben Bildern, Tönen, Objekten – das mit Abstand wichtigste Mitteilungsmittel. Wird die Sprache dabei formal über den eigentlichen Mitteilungszweck hinaus geformt, entsteht Literatur: als Gedicht, als Prosaerzählung, als Drama.
In diesem Sinne wird Literatur heutzutage in großer Menge produziert und massenhaft konsumiert, am häufigsten in Form des fiktionalen Films. Literatur ist in diesem Sinne ein ganz wesentlicher Teil unserer Alltagsgestaltung.
Die geeigneten Rezeptionsformen sind: lesen, zuhören, zuschauen.
Doch welchen Stellenwert im aktuellen literarischen Leben hat aber „alte“ Literatur?
Die Geschichte der deutschen Literatur beginnt eigentlich als Massenphänomen im 17. Jahrhundert. Zuvor gab es allenfalls die Eliten-Literatur des Mittelalters (Epen, Minnesang) und Volks-Literatur (Kirchenlied, Schwänke, Märchen…).
Welchen Wert hat heute die Sprachkunst früherer Jahrhunderte – zumindest für Menschen, die diese bestimmte Sprache (also z.B. die deutsche Sprache) sprechen?
Welchen Stellenwert im öffentlichen Bewusstsein haben heute die literarischen Werke früherer Jahrhunderte ?
Literatur ist umfassend und sicher archiviert, gedruckt, in digitaler Form…lesbar und teilweise auch hörbar in Archiven, in Büchern, auf CDs o.ä..
Aber gibt es diese Literatur noch im öffentlichen Bewusstsein?
Andere Formen des künstlerischen Erbes sind höchst präsent: Die Malerei in Museen, die Musik in Konzerten, künstlerische Artefakte aller Art in Ausstellungen aller Art, und vor allem die Architektur in stetig zugänglicher großer Öffentlichkeit. In der öffentlichen Wahrnehmung und in der öffentlichen Wertschätzung spielen diese Werke eine große Rolle.
Ja, sie haben in verschiedenster Hinsicht sogar wirtschaftlich eine erhebliche Bedeutung.
Aber gilt das auch für die Sprachkunst?
Der Zugang zu sprachlichen Kunstwerken ist für viele Menschen sehr schwierig. Auch eine differenzierte Beherrschung einer Sprache ermöglicht nicht unbedingt den Zugang zu literarischen Texten. Das Verständnis dieser Texte und der ästhetische Genuss verlangen mehr Kompetenz.
Hinzu kommt, dass die Sprachformen sich im Laufe der Zeit verändert haben und dass auch viele Inhalte fremd geworden sind.
Literatur braucht Vermittlungshilfen, die über das hinausgehen, was literaturwissenschaftlichen Profis als Kommentarbände zur Verfügung steht. Die individualisierte Rezeption kann erleichtert werden. Aber das allein schafft noch kein Interesse an dieser Kunst und auch nicht die Motivation, diese Kunst zu rezipieren.
Alle Versuche, „alte“ Sprachkunstwerke durch bestimmte zusätzliche „Inszenierungen“ attraktiv zu machen, verändern diese Werke, verfälschen das Original und werden trotzdem nicht erfolgreich sein.
V o r s c h l a g
Öffentlich zugängliche Exposition von Literatur in möglichst originaler Fassung – mit begleitenden Rezeptionshilfen, Analog zu Konzerten , analog zu Museen, analog zu öffentlich zugänglichen Baukunstwerken wird Literatur einem interessierten Publikum präsentiert bzw. präsentiert sich ein interessiertes Publikum diese Werke wieder selbst.
Strebt man eine professionelle Präsentation an, wird dies zunächst auch ein Finanzierungsproblem.
Die professionelle Darstellung verursacht – gerade wenn es sich um eine originalgetreue und qualifizierte Darstellung handeln soll – erhebliche Kosten. Das ist nicht anders als bei Musik, Malerei und Baudenkmälern.
Das Publikumsinteresse dürfte auf der anderen Seite bei Literatur auch nicht sehr groß sein. Und das ist anders als z. B. bei der Baukunst, zu der man mitunter weite Reisen unternimmt.
Gerade bei Dramen ist die sachgerechte Rezeption das Aufführen eines szenisch gestalteten Dramentextes. Auch für öffentlich finanzierte Theater ist dies aber nur schwer zu tragen, zumal der Publikumszuspruch beschränkt sein dürfte. Will man eine Inszenierung jedoch dadurch „attraktiv“ machen , dass man den Text kürzt und vereinfacht und dass man zusätzliche werkfremde Gestaltungselemente einsetzt, wird man dem literarischen Kunstwerk nicht gerecht.(vgl. dazu Tell in Oberammergau 2018). Das macht man ja bei den bildenden Künsten und architektonischen Kunstwerken auch nicht.
A l t e r n a t i v e
Eine Gruppe von Sprechern (die nicht unbedingt professionelle Schauspieler sein müssen) liest mit verteilten Rollen in gestalteter Sprechweise den Dramentext in der Originalfassung szenisch vor.
Das Vorlesen kann durch zusätzliche Gestaltungselemente (z.B. Kostüme) ergänzt werden.
Zusätzlich gibt es einen „Mentor“, der die nicht visualisierten Elemente erzählt, Zusammenhänge erläutert und die nötigen Hintergrundinformationen gibt.
Es entfallen die schauspielerischen Leistungen, der Auswendigvortrag, das Bühnenbild, die technische Bühnenausstattung. Bei dem relativ geringen Aufwand kann auch vor beliebig kleinem Publikum vorgetragen werden. Der Vortrag kann flexibel gestaltet werden: Pausen, Verteilung auf mehrere Termine, Zuhörerbeiträge…
Zweck: Der Dramentext wird dadurch bekannt und einigermaßen verständlich präsentiert. Das Drama wird primär als Sprachkunstwerk dargestellt und wahrgenommen.
B e i s p i e l „Klassische“ Dramen
In der Regel sind die Inhalte nicht unmittelbar zugänglich. Der Textumfang ist vergleichsweise groß.
Von den Dramen geht nicht unbedingt ein aktueller oder aktualisierbarer Erkenntniswert aus. Die literarische Qualität dieser Dramen besteht vor allem in der Entfaltung eines interessanten Plots, in der Ausgestaltung der Figuren, im Ideengehalt und in der komplexen sprachlichen Formulierung.
Kommerziell kalkulierende Bühnen, aber auch das subventionierte öffentliche Theater können solche aufwändige professionelle Präsentationen mit allen Darstellungselementen kaum leisten.
Man stelle sich vor, man wolle Schillers vollständige Wallensteintrilogie in einem Stadttheater auf die Bühne bringen! – Die Vermittlung der originalen Textversion geht m.E. nur, wenn die Aufführung sich ganz auf die Textpräsentation konzentriert und dabei stets auch die Belange der geforderten Zuhörer im Auge behält.
Von der Sache her sind Dramen keine Lektüren, sondern Bühnenpräsentationen. Und typischerweise werden Dramen auch immer kollektiv rezipiert.
Neben Dramen eignen sich für Rezitationen auch besonders Balladen.
Ein besonderer literarischer Bereich sind die mittelalterlichen Epen, die in ihrer originalen Sprachgestalt (Mittelhochdeutsch, Althochdeutsch) nur noch einer ganz kleinen Minderheit zugänglich sind.
Um diese Werke als kulturell höchstwertige Sprachkunstwerke zu bewahren, bedarf es einer relativ aufwändigen Rezitationen: Sprecher, die das Mittelhochdeutsch korrekt sprechen können, Übersetzer ins Neuhochdeutsche, Erklärer.
Aber wie sonst will man z.B. das Nibelungenlied als Kulturgut bewahren?
Das vorgeschlagene Projekt kann einerseits aus der privaten Initiative einer Gruppe von Literatur-Begeisterten entspringen, die es dann auch in diesem Rahmen belassen.
Andererseits ist es m.E. auch eine kulturpolitische Aufgabe, literarische Kunst für die Nachwelt im öffentlichen Bewusstsein zu bewahrten.
Wir bewahren ganz selbstverständlich keltische Fürstengräber, normannische Schiffe, mittelalterliche Textilbilder, schon fast zerstörte Burganlagen, Waffen aller Art, barocke Schlösser, Eisenhüttenwerke.
Wir singen gregorianische Choräle, lutherische Kirchenlieder, Liebesromanzen und Wahnsinns-Arien.
In unseren Museen finden wir Gebets-und Getreidemühlen. Skulpturen aus vielen Jahrhunderten schmücken unsere Parks und Plätze. In unseren Städten sind Straßen nach Schiller, Goethe und Wolfram von Eschenbach benannt.-
Jedoch kaum jemand kennt noch deren Werke. Das sollte man ändern.
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