Charaktere der Schriften – Schrift mit Charakter
Haben Lehrer eine gute Schrift? – Saubere Handschrift ist selten geworden!
von Wolfgang Bräun
In England war es im 19. Jahrhundert „up to date“ geworden, mit einer neu entwickelten stählernen Spitzfeder zu schreiben. Dies vereinfachte jedoch die sehr schräge englische Schreibschrift nicht, weil deren große Unter- und Oberlängen und ihr veränderlicher Strich, der Schwellzug, dekorativ bleiben sollten und nach wie vor fein-motorisch schwer zu schreiben war.
Diese Spitzfeder setzte sich rasch danach auch im deutschen Reich durch und prägte die Schriftbilder des 19. Jahrhunderts. So schrieb man damals in zwei Schreibschriften: der Kurrent-Schrift, auch „deutsche“ Schreibschrift genannt, und in der lateinischen Schreibschrift.
Ab 1910/11 galt eine Schreib-Neuheit als maßgeblich, die „Sütterlin-Schrift“, die den Namen desjenigen trug, der sie „ministeriell kreiert“ hatte: Karl Ludwig Sütterlin.
Karl Ludwig wurde als Sohn des Schustermeisters Daniel Sütterlin und der Anna Maria Gebhardt, beide aus Hugsweier bei Lahr im Schwarzwald, am 23. Juli 1865 als jüngerer Bruder des Ernst Daniel (1863–1917) und der Schwester Sophie (1862–1927) geboren.
Nach der Volksschule ab 1971 in Lahr erlernte Sütterlin ab 1879 den Beruf des Lithographen. Als Geselle erweiterte er seine kunsthandwerkliche Techniken bei der Verarbeitung von Leder in der Buchbinderei.
1888 zog er mit 23 Jahren zu seinem Bruder von Lahr nach Berlin, wo er zunächst am Museum für Kunstgewerbe Schüler des Historienmalers Max Friedrich Koch und des Grafikers Emil Döpler wurde, der damals den neuen deutschen Reichsadler entworfen hatte.
Sütterlin hatte gut zu tun mit Entwürfen für Buch-Einbände, für Vasen und Gläser und mit druckgraphischen Arbeiten. Dazu zählten Grußkarten, die Gestaltung realer Wertpapiere, wie der Siemens-Aktie von 1897, und auch die des Buchschmucks für den Klerus, der Bibel der Reichsdruckerei von 1908. Dabei traf Sütterlin auch den Geschmack des gehobenen Bürgertums.
Sütterlins Arbeiten gipfelten in der Plakatkunst, einem eigenständigen Zweig der Gebrauchsgraphik, vor allem mit dem sogenannten „Hammer-Plakat“ zur Berliner Gewerbeausstellung 1896.
Er entzündete damit auch eine öffentliche Diskussion darüber, dass er sich abkehrte von der überladenen Bildsprache der Gründerzeit hin zum Jugendstil und einer vermeintlichen sozialistische Symbolik, wie konservative Kreise vermuteten. Zum großen Wurf wurden 1902 die Prachtbände „Marksteine aus der Weltliteratur“ in Originalschriften, was ihm zusätzliche Aufmerksamkeit eintrug.
Er lehrte an der Unterrichtsanstalt des Königlichen Kunstgewerbemuseums zu Berlin, an den Vereinigten Staatsschulen für freie und angewandte Kunst, an denen er auch Lehrgänge in künstlerischer Schrift abhielt, und er gab Fachunterricht für Buchdrucker an der Handwerksschule in Berlin.
Sütterlin war also bereits bekannt, als er Teilhaber bei des Bruders Verlag mit Kunstgewerbehandel wurde, die dieser 1902 im Berliner Albrecht-Dürer-Hauses gegründet hatte. Schwester Sophie führte ihren Brüdern in jener Zeit deren gemeinsamen Haushalt, blieb ledig und wurde nach 1917 Pensionswirtin.
Zu jener Zeit hatte er schon rund ein Jahrzehnt angehende Buchdrucker und Buchbinder unterrichtet, auch Handels-Lehrerinnen und solche der Victoria-Fortbildung sowie seit 1904 auch Fachklassen für Ornament- und Schrift-Zeichnen an der Anstalt für Unterricht des Berliner Kunstgewerbe-Museums.
Eine Zeit, in der er eingebunden war in die künstlerischen und pädagogischen Diskurse und der intensiven Beschäftigung mit Schriftformen.
Unter Einfluss eines Stilwandels zur Moderne, angeregt von Peter Behrens, Emil Doepler, dem jüngeren, Fritz Helmuth Ehmcke und Max Friedrich Koch, arbeitete Sütterlin zunächst an Kunstschriften, wie der Sütterlin-Unziale der Schrift-Gießerei Gursch.
Info I
Anfang des 20. Jahrhunderts schuf der deutsche Grafiker Ludwig Sütterlin im Auftrag des preußischen Kultur- und Schulministeriums zwei Schul-Ausgangsschriften: eine nach lateinischem Schriftstil und eine Kurrentschrift wie sie im deutschsprachigen Raum vorherrschte. Letztere bekam in der Folge die umgangssprachliche Bezeichnung Sütterlinschrift.
Noch vor der Erfindung leistungsfähiger Schreibmaschinen und bei anhaltenden Klagen in den Verwaltungen und bei der Lehrerschaft, dass die traditionelle Handschrift kompliziert und schwerfällig sei, entwickelte Sütterlin alltagstaugliche Fraktur- und Antiqua-Handschriften.
Diese machten seinen Namen derart bekannt, dass man bis heute alle Frakturschriften oft noch als „Sütterlin“ bezeichnet. So wurde Sütterlin als Grafiker, Buchgestalter, Kunstgewerbler, Schriftgestalter und Pädagoge dann auch Entwickler der nach ihm benannten Sütterlinschrift.
Info II
Sütterlins Schrift und dessen Buchstabenformen erhielten auch ein Umlaut-Zeichen über ä ö ü Ä Ö und Ü, das dem Buchstabens e entsprach. Sein „scharfes ß“ lässt erkennen, wie sich das „Dreierles-s“ von ſz ableitet.
Wurden m und n überstrichen, galt dies als verdoppelt. So wurde die deutsche Sütterlin-Schrift zur speziellen Form der deutschen Kurrentschrift für Schreibanfänger.
Daneben entwickelte Ludwig Sütterlin auch eine stilistisch entsprechende lateinische Schreibschrift für Schreibanfänger, die jedoch nicht die eigentliche Sütterlinschrift gilt.
Dazu hatte ihn das preußische Kultur- und Schulministerium beauftragt, eine Ausgangsschrift zu gestalten und zu entwerfen, die es erleichtern sollte, Schreibschrift in der Schule zu lernen.
Dazu hatte Sütterlin ein Kugelspitz-Feder für den Gleichzug vorgeschlagen, die auf vereinfachten Buchstabenformen, kürzeren Ober- und Unterlängen und auf einer Lineatur im Verhältnis 1:1:1 basierte. Bislang relativ breite Buchstaben wurden aufrecht gestellt. Merkmale, die bis heute den verbreiteten Antiqua-basierten Schulschriften ähnlich sind.
1910 hatte Sütterlin seine Entwürfe dem preußischen Kultusministerium vorgelegt, dessen Unterrichtsabteilung ihn stark förderte und mehrjährige Schulversuche begannen, die 1914 zu zwei „Normal-Alphabeten“ für die Schulen führten.
Diese „deutsche Sütterlin-Schrift“ wurde ab 1915 zur offiziellen Schul-Schreib-Schrift in Preußen, die in den 1920er Jahren die bis dahin übliche deutsche Kurrent-Schrift als Fließschrift ablöste.
„Sütterlin“ wurde 1935 in abgewandelter Form mit leichter Schräglage und weniger Rundformen auch zur „Deutschen Volksschrift“ in den maßgebenden Lehrplänen nach NS-Ideologie wurde.
Obwohl dies die eigentlich bereinigte Normalschrift war, wurde sie mit Rundschreiben vom 1. September 1941 verboten, nachdem Martin Bormann, Chef der NS-Partei-Kanzlei, bereits mit Rundschreiben vom 3. Januar 1941 untersagt hatte, gebrochene Druckschriften, sog Frakturtypen zu verwenden.
Diese als besonders deutsch geltende Frakturschrift wurde im „Normalschrifterlass“ als „Schwabacher Judenlettern“ verunglimpft – angeblich eine Ausgeburt jüdischer Drucker. Stattdessen wurde die eigentlich verpönte Antiqua plötzlich zur „Normalschrift“, die angeblich das gesunde deutschen Volksempfinden darstelle.
So wurde nach dem Verbot der „deutschen Schrift“ ab 1942 die variierte lateinische Schrift zur Ausgangsschrift in den Schulen als Deutsche Normalschrift mit den Proportionen 2:3:2, mit Schrägstellung und in Oval-Formen.
Nach 1945 wurde zur lateinischen Ausgangsschrift die deutsche Schreibschrift an west- und ostdeutschen Schulen teilweise in die 1980er Jahre zusätzlich gelehrt.
Noch heute gibt es verschiedene Initiativen und Vereine, die beim Lesen von Texten in Sütterlin- und anderen alten Schriften helfen; so die „Sütterlin-Schreibstube“ in Konstanz und die in Hamburg.
Sütterlin starb im November 1917, der Vermutung nach an Unterernährung während der britischen Seeblockade, der sog. „Hungerblockade“.
Als Erbin musste sich seine Schwester in der Geschäftsnachfolge das Urheberrecht an den beiden Schriften für weitere pädagogische Versuche mit dem preußischen Staat teilen.
Ab Mitte der 20er Jahre, etabliert an den preußischen Grundschulen sowie an den kaufmännischen Schulen, wurde Sütterlins Frakturschrift auch in den anderen deutschen Bundesstaaten eingeführt und bis 1941 gelehrt. Je nach Kulturhoheit in den deutschen Ländern gehörte sie noch bis Ende der 50er Jahre zum fakultativen Lehrstoff.
Der lang anhaltende Erfolg der Sütterlin-Frakturschrift basiert auf ihren runden und fließenden Formen, die mit der schließlich weit verbreiteten stählernen Rundfedern schnelleres Schreiben ermöglichte, und in ihrer Anlage als sogenannte Ausgangsschrift, woraus der persönliche Charakter einer individuellen Handschrift werden sollte.
Noch heute ist die Bedeutung einer gediegenen Handschrift umstritten. Lernt man statt der gebundenen Schreibschrift nur Druckschrift und Tastaturschreiben – so in Finnland und in den USA – betonen Fließschrift-Schreibe, dass eine individuelle Handschrift die Persönlichkeit entfalte und die fein-motorische Kompetenz fördere.
Und wenn Lehrer beobachten, dass beim Lernen der Schreibschrift die Größe und die Abstände der Buchstaben besser zu kontrollieren seien als bei Druckbuchstaben, klingt dies ganz so wie ursprünglich bei Ludwig Sütterlin.
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